Editorial 06/2012
Wollen wir alle blau sein?
von Charlotte Schillhammer

Nehmen wir einmal an, wir wollten alle blau sein. Da gäbe es schon die eine oder andere Möglichkeit. Man könnte einen über den Durst trinken. Man könnte sich auch für eine bestimmte politische Partei stark machen. Und wenn man das „blau sein“ zumindest sprachlich etwas aktiver angehen wollte, könnte man ja auch einfach einmal blau machen. Nun, seit kurzem gibt es eine vierte Möglichkeit: Wer von uns eine unterdurchschnittliche Verfahrensdauer aufweist ist ……… blau! Erraten!

RichterIn ist ja sonst eher gewohnt, sich durch Unmengen von Gräulichkeiten durchwälzen, also quasi farblos arbeiten zu müssen. Flächendeckende Farbdrucker für pdf-Anhänge und Urkunden? Fehlanzeige! Was haben wir uns nicht den Mund fusselig geredet: Farben sind wichtig, haben Unterscheidungsfunktion, heben Unterschiede hervor, sind wichtig für die Aufmerksamkeit und das Aufnehmen des Akten- und Urkundeninhalts, vor allem, wenn man tausende von Seiten zu bewältigen hat. Weitgehend ungehört verhallt!
Irgendwie scheint man uns dann aber doch ernst genommen zu haben, so von wegen Farben und Aufmerksamkeit und so, nur auf eine etwas andere Art und Weise, als wir uns das je vorstellen hätten können. Da flatterte jüngst die monatliche Statistik über meinen Schreibtisch: blau unterlegte Zahlen für eine unterdurchschnittliche, rot unterlegte Zahlen für eine überdurchschnittliche, indifferent weiß - gleich einem unerforschten Flecken Erde auf der Landkarte - unterlegte Zahlen für eine durchschnittliche Verfahrensdauer, alles schön fein säuberlich aufbereitet für unterschiedliche Fallkonstellationen.

Eines ist sicher: Goethe´s Farbenlehre wollte damit wohl niemand zum Durchbruch verhelfen. Was aber wollte oder will man dann damit? Sollen wir Monat für Monat alle „blau sein“ wollen? Soll gar ein Wettlauf mit der Zeit, mit anderen KollegInnen stattfinden? Gibt es abseits der kurzen Verfahrensdauer keine anderen, ebenso erstrebenswerte Ziele für unsere  Arbeit? Respektvoller Umgang mit Parteien und Zeugen etwa? Fragen über Fragen. Dabei ist es nicht das Hervorheben der kurzen Verfahrensdauer an sich, das verstört, sondern vielmehr die alle anderen erstrebenswerten Ziele völlig ausschließende, einseitige Fixierung auf die kurze Verfahrensdauer. Und das betrifft leider ganz allgemein das ständige Messen unserer Tätigkeit mit immer ausgeklügelteren Statistiken.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, wie Sie das sehen, solche Farben, wie sie seit kurzem auf der monatlichen Statistik aufscheinen, gehören einfach entsorgt. Ersatzweise schlage ich vor, dass wir uns unter anderem folgende Stelle aus unserer Welser Erklärung vom 8.11.2007, der Ethikerklärung vor Augen halten und einbläuen:

„Art. VII. Entscheidungsfindung:
Jede Person, die das Gericht anruft oder einer Straftat beschuldigt vor Gericht steht, darf von uns erwarten, dass wir uns sorgfältig mit ihrem Fall befassen und eine qualitätsvolle Entscheidung treffen. Dabei nehmen wir uns so viel Zeit wie nötig und entscheiden so zügig, wie es unsere Arbeitsbedingungen zulassen. ...“